Durchbruch bei den Sondierungen! oder: Die Diktatur der Sprache

Ersteller von Text und Content sind nicht immer nur den Unbilden von Rechtschreibung, Grammatik, Stil und Sprachfluss ausgesetzt. Oft muss der Schreiber, bevor er den Griffel spitzt, mit einem Ohr auch den politischen Tendenzen lauschen. Dann nämlich, wenn – hier erwähnt aus aktuellem Anlass – ein Diktator über unserer Sprache sitzt.

Huh?

“Einigung in Berlin – Durchbruch bei Sondierungsgesprächen“, ist gerade aktuell im Spiegel Online zu lesen. Freuen wir uns also darüber, dass wir endlich, nach über einem Vierteljahr Stillstand, der neuen Bundesregierung einen Schritt näher gekommen sind. Das derart gepriesene Ergebnis der Sondierungen ist, dass die Parteichefs ihren jeweiligen Fraktionen die Aufnahme von Verhandlungen über eine Neuauflage der schwarz-roten Koaliton empfehlen werden.

Am 20. November 2017 war das Land in einer vergleichbaren Situation. Auch damals waren Sondierungsgespräche geführt worden, die schlussendlich zu einem klaren Ergebnis geführt hatten. Nur: die Schlagzeilen klangen anders. “Sondierungen geplatzt” schrieb der Stern beispielsweise, nachdem FDP-Chef Lindner die Gespräche zu einer eventuellen schwarz-gelb-grünen Koalition als aussichtslos beendet hatte. Die Parteichefs bekamen die Aufgabe, ihren Gremienobersten vom Einstieg in Koalitionsverhandlungen abzuraten, in der Presse wurde dies als schlecht, als Niederlage, als Scheitern bezeichnet.

Für uns als Content-Agentur ist dies ein bedeutender Vorfall, auch wenn er der breiten Masse überhaupt nicht aufgefallen ist. Der Begriff der Sondierungen wird hier, je nachdem was der Chefredakteur der jeweiligen Gazette gerne als Leitartikel drucken möchte, frei nach Gusto pervertiert. Es hat den Anschein, dass Sondierungen nur dann erfolgreich heißen dürfen, wenn sie nach dem Wunsch – ja, wessen eigentlich? – abgelaufen sind. Passiert dies nicht, gelten sie als gescheitert.

Politik bei der Texterstellung

 

So fragen wir uns bei zukünftigen Projekten, ob wir die Bedeutung uralter Vokabeln jedesmal nach dem Gutdünken der jeweiligen Staatsobersten anpassen müssen.

 

Beispiele für diese Pervertierung gibt es zuhauf:

Gerechtigkeit

Vom römischen Juristen Ulpian (170–228 n. Chr.) ist die Definition überliefert, nach der es ein Recht gebe, welches für alle gleich ist – und auf das sich auch jeder berufen darf. Was im Detail in diesem Recht verankert ist, spielt für die Gerechtigkeit zunächst keine Rolle, solange dieses Recht für alle in gleicher Weise gilt. Und auch wenn es Bauchgrimmen bereitet: wir müssen also den heulenden Viertplazierten im Schülerwettbewerb, der keinen Preis gewinnt, genauso als ‘Gerechtigkeit’ verbuchen, wie den überführten Mörder in den Vereinigten Staaten, der hingerichtet wird.

Die kürzeste Definition des Begriffes ist die, dass jeder genau das erhält, was er verdient.

Je nachdem, wen man fragt, erhält “Gerechtigkeit” die verschiedensten, völlig von der eigentlich gültigen Bedeutung abweichenden Interpretationen, bis hin zu Gleichheit oder bedingungsloser Konsequenzlosigkeit. Vom besten bis zum schlechtesten würde dann jedes Kind am Wettbewerb einen – ja sogar den gleichen – Preis erhalten.

Sozial

Dieser Begriff ist ein zweites Beispiel, welches sehr gut zum Thema passt, denn sozial heißt, dass die Gerechtigkeit kurz ausgesetzt wird. Nicht gewusst? Vorreiter Jesus von Nazareth bekam eine Frau serviert, die des Ehebruchs überführt worden war (sie war übrigens geständig). Jesus sagte sinngemäß: “Ihr habt recht! Nach dem Gesetz muss diese Frau gesteinigt werden!”. Kleiner Einschub für die, die aufmerksam gelesen haben: Das wäre Gerechtigkeit. Dann weiter: “Weil ich aber der Sohn Gottes bin, darf ich das Gesetz aussetzen, und in diesem Fall Gnade als neuen Trend einführen”. Da die Frau aus dem Gespräch geläutert hervorging und versprach, sich vortan an die Gesetze zu halten, darf dieser Fall als erfolgreiche Resozialisierung gelten. Und: es war eine der frühesten überlieferten sozialen Handlungen überhaupt.

Sozial heißt also, man muß nicht die Konsequenzen tragen, die man eigentlich verdient hätte.

So gilt es beispielsweise als normal, wenn ein schwerstkranker Mensch für die Behandlung aus der Gesundheitskasse mehr Geld erhält, als er jemals eingezahlt hat. Das ist nämlich sozial. Und auch hier erhält man, je nachdem, wen man fragt, zahlreiche davon abweichende Definitionen, welche ebenfalls regelmäßig bei der Gleichheit landen.

Alltag

Da wir als Berufsschreiber ein besonderes Verhältnis zum Umgang mit Sprache haben, macht uns diese Situation das Leben schwer. Besonders der Begriff der ‘sozialen Gerechtigkeit’, welcher derzeit häufig in den politischen Debatten auftaucht, verschafft uns ganz erhebliches Hirnbrummen – denn sozial und gerecht schließen sich gegenseitig aus, wie uns die Betrachtung des Themas klar zeigt. Nicht umsonst findet man im Internet zahlreiche, langatmige Erklärungeversuche dazu, jedoch keine wirklich schlüssige Definition.

Jetzt wisst ihr, liebe Leser, endlich mal, wie schwer wir es haben!

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